Zum 100. Geburtstag Nâzim Hikmets, des türkischen Volksdichters der Sehnsucht (2002)

Die Luft ist schwer wie Blei...

„1902 bin ich geboren / kehrte nie wieder in meine Geburtsstadt zurück / ich kehre nicht gerne zurück...“ schrieb Nâzim Hikmet in seiner 1961 in Berlin notierten Autobiographie und endete mit den Zeilen: „Sollte ich heute in Berlin vor Kummer zugrunde gehen / so kann ich sagen, dass ich als Mensch gelebt habe / und wer weiß / wie lange ich noch lebe / was ich noch alles erleben werde...“ Nur knappe zwei Jahre darauf verstarb der lange schon kranke große türkische Dichter in Moskau. Am 15. Januar wäre er hundert Jahre alt geworden.

Als Nâzim Hikmet in gehobenen Verhältnissen im damals osmanischen Saloniki geboren wurde, herrschte im ausgehenden Osmanischen Reich der finstere Absolutismus Sultan Abdulhamids II. Nach den ersten Kinderjahren in Diyarbakir und Aleppo, wo der Großvater Gouverneursgewalt ausübte, wuchs Hikmet in Istanbul auf. Hier schrieb er mit 13, 14 seine ersten Gedichte, ganz im Stil der Zeit nach dem Vorbild höfischer und religiöser Dichtung in arabischem Metrum. Den Zusammenbruch des Reiches nach der Niederlage im I. Weltkrieg an der Seite der deutschen Alliierten erlebte er auf der Kadettenschule. Eine klassische Biographie für die damalige Elite, die ihren ersten Bruch mit dem krankheitsbedingten Ausscheiden aus der Marine erhielt: 1919 ­ zugleich das Jahr, in dem Mustafa Kemal, der spätere Atatürk und türkische Republiksgründer, in Anatolien seinen Widerstandskampf gegen die alliierten Besatzungsmächte aufnahm. Hikmets gegen die englischen Besatzer Istanbuls gerichtetes Gedicht Gefangener der 40 Räuber machte ihn 1920 über Nacht berühmt.
Die vor der Familie verheimlichte Fahrt nach Anatolien, um sich den Befreiungskämpfern anzuschließen, brachte das Schlüsselerlebnis für Leben und Werk des jungen Dichters. Er wurde im konservativen Bolu als Lehrer eingesetzt, lernte hier die anatolische Landbevölkerung aus nächster Nähe kennen und wusste bald, dass er sich den Kampf anders vorgestellt hat. Kurz entschlossen reiste er mit Freund Vâlâ Nureddin nach Moskau, wo er sich an der „Universität der Werktätigen des Orients“ einschrieb, Russisch lernte und auf den russischen Futurismus stieß. Majakowski wurde zum entscheidenden Einfluss.
Die Eindrücke der langen Anreise durch Hungergebiete ließen sich nicht in das gewohnte Versmaß bringen, so sprengte Hikmet, inspiriert von Majakowskis freiem Metrum und Enjambement, mit dem Gedicht Die Pupillen der Hungernden erstmals die Regeln aller bisherigen Dichtung türkischer Sprache.
Nach der Rückkehr in die Türkei 1924, nach Lenins Tod, an dessen Sarg er tief berührt Totenwache gehalten hatte, gestaltete sich Nâzim Hikmets Leben zunehmend unstet: unter dem Vorwurf, den Kommunismus zu propagieren, musste er sich mehrfach vor Gericht verantworten, wiederholt konnte er sich der Verhaftung nur durch Flucht entziehen. „Die Luft ist schwer wie Blei. / Ich schrei / und schrei / und schrei. / Herbei / zu schmelzen / das Blei...“ schrieb er 1930. Seine revolutionäre Lyrik stieß bei der politischen Führung wie den Vertretern der klassischen Dichtung auf wenig Gegenliebe. „Ich bin Kommunist“, bekannte er in einer Verteidigungsrede 1931, „doch wie andere Weltanschauungen auch, ist der Kommunismus kein Verbrechen.“ Anfang 1938 wurde Nâzim Hikmet in zwei aufeinander folgenden Schauprozessen aufgrund des fingierten Vorwurfs der Anstiftung zum Aufruhr in der Armee zu über 28 Jahren Haft verurteilt. So fruchtbar die folgenden zwölf Jahre für sein Werk gewesen sein mochten, so abträglich waren sie seiner Gesundheit: Angina pectoris lautete die Diagnose. Kampagnen im In- und Ausland blieben wie sein verzweifelter Hungerstreik lange erfolglos, doch 1950 kam er im Zuge einer Generalamnestie nach dem Wahlsieg der Demokratischen Partei frei, ein in der Türkei bis heute übliches „Geschenk“ zu bestimmten politischen Anlässen. Im Folgejahr erhielt er den Gestellungsbefehl ins ostanatolische Sivas, obwohl er in der Jugend als Kadett gedient hatte und anschließend aus gesundheitlichen Gründen als untauglich zurückgestellt worden war. Es stand zu befürchten, dass er, wie drei Jahre zuvor der ebenfalls politisch unliebsame Schriftsteller Sabahattin Ali, beiläufig beseitigt werden sollte. Rasch entschloss er sich zur Flucht.
In Moskau nahm ihn der russische Schriftstellerverband herzlich auf. Im Juli 1951 bürgerte die Türkei ihren größten Dichter aus, seine Werke wurden verboten. In Prag nahm er den 1950 ihm noch während der Haft zuerkannten Friedenspreis entgegennehmen, in Moskau 1954 den Lenin-Friedenspreis. Als Mitglied des Weltfriedensrats bereiste er mehrere sozialistische Länder. Aufenthalte in China, bei dem er einen ersten Herzinfarkt erlitt und anschließend vier Monate in Moskau ruhen musste, in Warschau, Paris und Berlin, eine Reise nach Afrika folgten. Seiner Ideologie treu, war Hikmet doch nie blind für die Fehler des Regimes. Aufrichtig kritisierte er auch das favorisierte System, weshalb er trotz seines etablierten Autorenstatus von der politischen Elite stets mit Distanz behandelt wurde. Seine Haltung zu Stalin revidierte er radikal erst nach dem XX. Parteitag der KPdSU.
Unablässig entstanden Texte, hauptsächlich Lyrik, doch auch Dramen, viel gespielt im Moskau der 50er Jahre, Drehbücher, Romane und Übersetzungen. Die neue lyrische Form, die nicht allein in Rebellion gegen die Tradition besteht, sondern eine Synthese alter und neuer Metren und Rhythmen in einer dem Volk abgehörten Sprache findet, ist es, die mit zudem ungewohnten Inhalten den Ruf Nâzim Hikmets bis heute begründet. Stets steht der soziale Aspekt im Mittelpunkt seiner Poesie, die sich im Laufe der Jahre auf ein Konvolut von Vierzeilern über Briefgedichte bis zu umfassenden Epen auswuchs. Beeinflusst von türkischer Volks-, höfischer Diwan- und mystisch religiöser Dichtung ebenso wie von Dadaismus und Futurismus, gelang es Hikmet, mit einem Themenspektrum von Krieg und Leiden, Liebe und Verlust Menschen der unterschiedlichsten sozialen, kulturellen und ethnischen Herkunft anzusprechen. Sehnsucht nach Frieden und einer Gesellschaftsordnung, die allen ein Höchstmaß an Gleichberechtigung und Geborgenheit bietet, und leidenschaftliche Anteilnahme am Alltagsleben wie am Weltgeschehen prägen seine Texte. Mit ungewöhnlich vielfältigem Wechsel von Kompositionselementen innerhalb eines Gedichtes trug Hikmet sich den Ruf eines Komponisten lyrischer Sinfonien ein, wie es der in Deutschland lebende türkische Publizist Yüksel Pazarkaya formulierte. An Hikmets Hauptwerk Menschenlandschaften, dem 1938-51 in der Haft geschriebenen fünfbändigen Jahrhundertepos, beweist sich in Idealform wie sehr es ihm als erstem - und bisher einzigem - Dichter türkischer Sprache gelungen ist, dem eigenen Anspruch einer in Form und Inhalt geschaffenen Symbiose der Vertikalen mit der Horizontalen in Zeit und Kultur gerecht zu werden. Er sei „Wort für Wort politisch geblieben“ und habe doch „bei keinem Wort die Poesie verloren“, bescheinigte ihm Peter Bichsel.
Als seine vierte Frau Vera Tuljakowa ihn am 3. Juni 1963 morgens fand, einer erneuten Herzattacke erlegen, war Nâzim Hikmet viel zu früh aus einem reichen, von Gefängnis und Exil, von Liebe und Abschied geprägten Leben geschieden. „Wie viele Dichter mussten doch ihr Land verlassen, seit es Lyrik gibt! Wie oft mussten ihre Herzen, die bis zur allerletzten Minute mit der Sehnsucht nach der Heimat schlugen, an fremden Orten begraben werden!“ hatte er noch zwei Tage zuvor notiert. Letzte Ruhe fand er auf dem Moskauer Prominentenfriedhof Nowodewitschi.
Seit 1965 kümmerte sich in der Türkei insbesondere der Publizist Memet Fuat, Sohn von Nâzim Hikmets dritter Frau Pirâye, um die authentische Verbreitung von Hikmets Werken. Im Jahr 2000 konnte Fuat seine detaillierte Nâzim-Hikmet-Biographie mit dem Hinweis abschließen, das Werk seines Stiefvaters liege endlich auch in der Türkei vollständig vor. Die jüngste, vom türkischen P.E.N.-Zentrum, dem türkischen Schriftstellerverband und der Nâzim-Hikmet-Stiftung gemeinsam geführte Kampagne zur Rehabilitierung des Dichters scheiterte, trotz Unterstützung durch Ministerpräsident Bülent Ecevit, Sozialdemokrat und selbst Dichter, am Widerstand des rechtsgerichteten Koalitionspartners. Türkische Schulbücher enthalten nach wie vor keinerlei Hinweis auf den epochemachenden größten türkischen Dichter. „Nâzim ist in der ganzen Welt bekannt, er braucht diese Anerkennung nicht. Doch die Türkische Republik braucht sie“, erklärte Ataol Behramoglu, Vorsitzender der türkischen Schriftstellergewerkschaft.
Dennoch wurde der 100. Geburtstag Nâzim Hikmets in diesem Januar nicht nur von seinen Verehrern, sondern auch von Seiten des ­ sozialdemokratisch geleiteten ­ türkischen Kulturministeriums mit Publikationen und Veranstaltungen gefeiert. Mit der Aufnahme in die UNESCO-Liste der zu begehenden Gedenktage 2002 ist ihm noch einmal weltweite Aufmerksamkeit gesichert. Seine Rehabilitierung in der Türkei jedoch erweist sich als weiterer Prüfstein für die Ernsthaftigkeit, mit der das Land den demokratischen Wandel auf dem Weg nach Europa betreibt.

© Sabine Adatepe 2002

Anmerkung: Am 5. Januar 2009 wurde Nâzim Hikmet in der Türkei offiziell rehabilitiert.

 
     

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