ORIENT. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients.
44. Jg. Nr. 2, Juni 2003, S. 291-294

Buchbesprechung:

Saime Göksu/Edward Timms: Romantic Communist. The Life and Work of Nazim Hikmet. Preface by Yevgeny Yevtushenko. Hurst & Company, London 1999. 367 S., Abb. ISBN 1-85065-371-2

2002 wurde mit einer Welle von Veröffentlichungen und Veranstaltungen auf nationaler wie internationaler Ebene dem 100. Geburtstag des türkischen Nationaldichters Nâzım Hikmet (Ran) gedacht. 2003 bringt den 40. Todestag des bis heute in der Türkei offiziell verfemten Literaten. Mit dem Tod auch des Publizisten Memet Fuats, Stiefsohn Hikmets, im Dezember 2002 verlor die türkische Literaturforschung einen der letzten Zeitzeugen aus der nächsten Umgebung des Dichters und zugleich den sachkundigsten Verwalter seines publizistischen Erbes. Seither sind Biographien mit authentischen Stimmen mehr denn je ein Desiderat.

Saime Göksu, “a therapist with a flair for human relationships” (X), und der britische Historiker Edward Timms, Leiter des Centre for German-Jewish Studies der Universität Sussex und “fascinated by the power of ideas” (X), legten 1999 nach jahrelanger Recherchearbeit eine Hikmet-Biographie vor, die zugleich die politische und kulturelle Entwicklung der türkischen Republik - 2003 im 80. Jahr ihrer Gründung - wie auch der 20er und 50er Jahre der Sowjetunion als die beiden Hauptschauplätze in Hikmets facettenreichem Leben nachzeichnet. Jenen Mann, der von den einen als “Vaterlandsverräter” verachtet, von den anderen als Ikone verehrt wird, nicht zu idealisieren, zugleich aber seinem Leben,   “transfigured by poetic and political vision”, gerecht zu werden, setzten die Autoren sich zum Ziel. Sie erhoben Svetlana Alliluyevas, der Tochter Stalins, Einschätzung des Dichter als “Romantic Communist” zum Motto und baten den großen russischen Poeten der Poststalinära,  Yevgeny Yevtushenko, 1951-1963 im engeren Umkreis Hikmets, um ein Vorwort.

Yevtushenko positioniert sich aus heutiger Sicht gegen den Kommunismus und zeigt zugleich auf, warum in den frühen Jahren “major twentieth-century figures in the arts” (XIII), wie Majakowski, Picasso, Greene, Orwell, Neruda, überzeugte Kommunisten sein konnten. Habe die kommunistische Ideologie im Westen auch rasch an Sympathie verloren, so gab es noch “a Third World .. where the tyranny of powerlessness and hunger was so terrible” (XIV), wozu die damalige Türkei gehörte.

Bevor Hikmet jedoch mit dem Kommunismus, der sein Werk wie sein Schicksal entscheidend prägen sollte, in Berührung kam, gehörte er qua Geburt zur Herrschaftselite des  ausgehenden Osmanischen Reiches. Nach den ersten Kinderjahren in Diyarbakır und Aleppo, wo Großvater Nâzım Pascha Gouverneursgewalt ausübte, wächst Hikmet in Istanbul auf. Hier schreibt er mit 13, 14 Jahren erste Gedichte, ganz im Stil der Zeit nach dem Vorbild höfischer und religiöser Dichtung im arabischen Metrum und vor allem patriotisch inspiriert. Den Zusammenbruch des Reiches nach der Niederlage im I. Weltkrieg an der Seite der deutschen Alliierten erlebt er auf der Kadettenschule. Für die damalige Elite eine klassische Biographie,  die erste Brüche 1919 durch die Trennung der Eltern - Mutter Celile geht als Malerin nach Paris - und das krankheitsbedingte Ausscheiden aus der Marine verzeichnet. 1919 ist  zugleich das Jahr, in dem Mustafa Kemal (Atatürk) in Anatolien seinen Widerstandskampf gegen die alliierten Besatzungsmächte aufnimmt. Hikmets gegen die englischen Besatzer Istanbuls gerichtetes Gedicht Kırk Haramilerin Esiri (dt. Gefangener der 40 Räuber) macht ihn 1920 über Nacht berühmt.

Gemeinsam mit Freund Vâlâ Nureddin, kurz Va-Nu, schließt Hikmet sich Ende 1920 der Befreiungsbewegung an. Die Reise ins anatolische Kampfgebiet bringt die Bekanntschaft mit den Ideen Lenins, Liebknechts und Kautskys sowie erstmalig die persönliche Konfrontation mit der Lebensrealität der anatolischen Landbevölkerung - und am Ende eine große Enttäuschung: statt zum Kampf an der Waffe, werden beide im Rahmen des 1921 ausgerufenen “battle for education” (23) als Lehrer im westanatolischen Bolu eingesetzt. Hier erleben sie hautnah die gesellschaftliche Spaltung in Tradition und Moderne und vor allem die alles lähmende Bigotterie. Frustriert auch von der Unmöglichkeit der persönlichen Weiterentwicklung beschließen die jungen Idealisten, sich auf eigene Faust in die Sowjetunion aufzumachen.

Über Batum geht es auf einer elftägigen Zugreise durch die russischen Hungergebiete nach Moskau. Hatte Hikmet spätestens nach dem Bekanntwerden der Ermordung Mustafa Suphis, Gründer der türkischen KP, seine Illusionen über das noch im Entstehen begriffene  kemalistische Regime verloren, so erkennt er nun, dass auch seine Vorstellung der Sowjetunion als “liberated and egalitarian society” (37) eine Illusion war.
 “As the train wound its way through the devasted countryside, the crooked lines of starving people became associated in his mind with the fracturing of metrical form...” (38)
Inspiriert von Majakowskis freiem Metrum und Enjambement sprengt Hikmet erstmals die Regeln aller bisherigen Dichtung türkischer Sprache, um die überwältigenden neuen Eindrücke adäquat auszudrücken: Açların Göz Bebekleri (dt. Die Pupillen der Hungernden) ist die erste Frucht der neuen Form. In Moskau schreibt Hikmet sich an der Universität der Werktätigen des Orients ein, lernt Russisch, schreibt Jubelgedichte zu Lenins neuer Politik, lässt sich vom sowjetischen Futurismus inspirieren und entdeckt seine starke Affinität zum Theater, hier besonders durch Meyerhold: “The influence of the Soviet theatre on my lyric poetry is greater than the influence of Soviet poetry” (51), bekennt er später. Die frühen Werke dieser Phase, in der Hikmet eine Synthese aus Kommunismus und Konstruktivismus anstrebt, wirken durch die “immediacy of their imaginative appeal” (48); politische Anliegen bringt er statt durch politische Parolen, durch poetische Bilder zum Ausdruck.

Nach Lenins Tod kehrt Hikmet Ende 1924 in die Türkei, inzwischen eine säkulare Republik, zurück, schreibt Artikel, Kolumnen und Gedichte, führt so als erster türkischer  Autor die Sprache der modernen Politik in die türkische Dichtkunst ein. Weder bei den Vertretern der klassischen Dichtung noch bei der politischen Führung stößt seine - politisch wie literarisch - revolutionäre Lyrik auf Gegenliebe. Immer wieder muss Hikmet sich wegen Kommunismuspropaganda vor Gericht rechtfertigen und wird im März 1925 in Abwesenheit zu 15 Jahren Haft verurteilt. Der Festnahme entzieht er sich durch Flucht in die Sowjetunion. In Moskau engagiert er sich vor allem am Theater.

Bei der Rückkehr 1928, nach der Amnestierung, wird Hikmet an der Grenze wegen gefälschter Papiere verhaftet. Diese - erste - Gefängniserfahrung wirkt sich auf seinen Schreibstil aus, er benutzt jetzt “more condensed images to create vivid characters and poignant scenes” (74). Wieder auf freiem Fuß in Istanbul gerät er in innerparteiliche Turbulenzen der türkischen KP: Verrat, Verhaftungen, Flügelkämpfe, Anfeindungen, Parteiausschlüsse - darunter auch Hikmet. Das tut weder seiner Solidarität mit den Werktätigen, noch seiner literarischen und publizistischen Produktivität einen Abbruch. Seit der türkischen Sprach- und Schriftreform 1928 schreibt auch Hikmet in Lateinschrift, im April 1929 legt er seinen ersten Gedichtband im neuen Alphabet vor. Im Sommer 1930 erscheint das erste türkische “Hörbuch”: zwei Gedichte Hikmets in eigener Lesung auf Schellackplatte. Die 30er Jahre massiver Zensur, Hikmet kann sich zeitweise nur mit Übersetzungen über Wasser halten, bringen den Bruch mit ehemaligen Genossen, “who made their peace with the establishment” (97), auch mit Freund Va-Nu, sowie die Beziehung zu Piraye, die den leidenschaftlichen Dichter zwei Jahrzehnte lang entscheidend prägen sollte. Gefängnisaufenthalte und der aufkommende Faschismus in Europa veranlassen politische Werke wie Taranta-Babu’ya Mektuplar (dt. Briefe an Taranta-Babu) oder Simavne Kadısı Oğlu Şeyh Bedrettin Destanı (dt. Epos vom Scheich Bedreddin, Sohn des Kadis von Simavne): stark dialogische Elemente, traditionelle Reime, folkloristische Fragmente u.a. “suggest a parallel between the forces of revolution and the dialectic of nature” (128).

Anfang 1938, im Todesjahr Atatürks, wird Hikmet in zwei Schauprozessen mit dem fingierten Vorwurf der Anstiftung zur Revolte in Armee bzw. Marine zu 15 bzw. 28 Jahren Haft verurteilt. “At a certain level one does not feel the pain of the disaster any more” (149),  schreibt er nach Ablehnung seiner Revision an Piraye.

Die Gefängnisjahre in Ankara, Istanbul, Çankırı und vor allem Bursa (1940-50) werden zu einer Zeit intensiven Austausches mit den Mithäftlingen, der Schriftsteller Orhan Kemal und der Maler Ibrahim Balaban etwa wurden erst durch seine Anleitung und Ermutigung zu professionellen Künstlern, und intensiven literarischen Schaffens. Neben auch handwerklicher Tätigkeit, um den schmerzenden Geldmangel auszugleichen, entstehen hier Übersetzungen, u.a. Tolstois Krieg und Frieden und Puccinis Tosca, aufgeführt 1941 in Ankara,  Liebesgedichte für Piraye, darunter die sogenannten “Briefgedichte” an seine Frau - “moved thousands of readers... through their evocation of passionate love constrained by political oppression” (185) -, und Skizzen - “about thirty short biographical vignettes” - für Memleketimden İnsan Manzaraları (dt. Menschenlandschaften). Trotz formaler Unvollkommenheiten gilt dieses Werk, das eine soziokulturelle Skizze der Menschen seines Landes durch Geschichte und Politik in schließlich fünf Bänden darstellt, als sein  
“masterpiece... because he used a flexibly modernistic technique of montage to construct a narrative with Homeric undertones. (236) ... the impassiveness of nature, the ardours of life’s journey, the constraints of prison and the struggle for liberation. Nazıms success in construing these universal themes within a specific landscape and giving them compelling human voices resulted in a poem of exceptional power.” (237)
Im Juli 1950 kommt Hikmet nach einem Hungerstreik und internationalen Solidaritätskampagnen im Zuge der Generalamnestie nach den Parlamentswahlen frei. Die Ehe mit Piraye ist inzwischen gescheitert. Der durch die Haft geschwächte Dichter lebt nun mit seiner Cousine Münevver (Andaç) zusammen, die ihm 1951 Sohn Memed (später: Mehmet Nazım) gebiert.

Mit der türkischen Beteiligung am Koreakrieg im Herbst 1950 ist der anfängliche Optimismus nach der Ablösung der allmächtigen Republikanischen Partei unter Ismet Inönü durch die Demokratische Partei unter dem Amerika-Freund Adnan Menderes versiegt. Die anti-kommunistische Stimmung verschärft sich erneut. Hikmet, unter Dauerobservation, arbeitet bei den Ipek Film Studios. Als er 1951 trotz erheblicher Gesundheitsprobleme den Gestellungsbefehl ins ostanatolische Sivas erhält, steht zu befürchten, dass er, wie drei Jahre zuvor der ebenfalls politisch unliebsame Schriftsteller Sabahattin Ali, beiläufig “beseitigt” werden soll. Er entschließt sich erneut zur Flucht.

Über Bukarest kommt Hikmet im Juni 1951 in Moskau an, wo ihm ein großer Empfang bereitet wird. “He came here not to receive medals and recognition, but to live, to work, to fight” (257), erinnert sich später Konstantin Simonov, damaliger Vorsitzender des sowjetischen Schriftstellerverbandes, der ihn offiziell am Flughafen begrüßt. Im Kalten Krieg ist ein Dichter aus der “3. Welt”, der für die Freiheit in die Sowjetunion flüchtet, der  sowjetischen Propaganda höchst willkommen. Seine moderate Kritik am Personenkult des Stalinismus wird verziehen. Mit Datscha im Prominentenort Peredelkino, eigener Wohnung in Moskau und dem Studenten Ekber Babayev als persönlichem Sekretär gehört Hikmet bald zum literarischen Establishment. Als Botschafter des Weltfriedensrates und Mitglied des Schriftstellerverbandes entwickelt er eine rege Reisetätigkeit, die ihn auch “vor” den  “Eisernen Vorhang”, etwa nach Paris, Kuba, Tansania und Ägypten, führt. Seiner Ideologie treu, doch nicht blind für die Fehler des favorisierten Systems, wird er von der politischen Elite mit Distanz behandelt. Nach Stalins Tod schreibt er eine Hymne an den Staatsmann, doch bei Bekanntwerden der Verbrechen der Stalin-Ära stellt er sich auf die Seite der Rehabilitierten, ohne seinen Glauben an einen idealen Kommunismus zu verlieren. Neben erfolgreicher Tätigkeit für das Theater, inspiriert durch das Erbe Meyerholds, arbeitet Hikmet ab 1954 für verschiedene, vor allem türkischsprachige Radiosender, so 1955 für Radio Budapest und ab 1958 für “Bizim Radyo” in Leipzig. Darin warnt er früh vor der “schwarzen Gefahr”: einem Erstarken des Islam in der säkularen türkischen Republik. In der DDR ist er seit langem ein Begriff, übersetzt von Alfred Kuralla und herausgegeben von Brecht und später Stefan Heym.

Eine Serie neuer Gedichte löst die späte Liebe zu Vera Tulyakowa aus, für die Hikmet sich 1960 von seiner langjährigen Lebensgefährtin und Ärztin Galina Grigoryevna Kolesnikova trennt. “Working out feelings through poetry served as a therapy, reconciling him with the harshest aspects of existence” (345). Eines der “most original literary achievements” (342) der letzten Jahre ist der autobiographische Roman Yaşamak Güzel Be Kardeşim (dt. Die Romantiker). Doch das rasante Leben an der Seite der sehr viel jüngeren Frau fordert seinen Tribut. Am 3. Juni 1963 erliegt Hikmet einem zweiten Herzinfarkt in seiner Moskauer Wohnung.

Er erlebte nicht mehr, wie seine Hoffnungen auf “Tauwetter” im sozialistischen Lager sich ebenso als Illusion erweisen sollten wie jene auf die Lockerung des politischen Regimes in der Türkei nach der neuen Verfassung von 1961, wie die Autoren im Epilog anmerken.

Die Biographie besticht in erster Linie durch die Fülle authentischer Stimmen von Zeitzeugen. Zitate aus Hikmets poetischem Werk sind durchgängig einsprachig Englisch, übersetzt zumeist durch die Autoren, gehalten, leider z.T. ohne Nennung des Originaltitels. Subjektiv gesetzte Schwerpunkte (warum z.B. sollte Maler Balaban ausführlicher darzustellen sein als Autor Orhan Kemal?) wie auch zum Teil durchscheinende persönliche Sympathien der Autoren, chronologische Sprünge, auch über die durch die thematische Kapitelgliederung bedingten hinaus, und die Ermangelung eines literaturwissenschaftlichen Ansatzes sind angesichts der flüssigen Lektüre und des in sich stimmigen Gesamtbildes zu verschmerzen.

Nâzım Hikmets Werk, “a compelling testimony to the resilience of the human spirit under pressure” (351), liegt, wie Stiefsohn Memet Fuat, der 2001 ein kritisches Vorwort zur türkischen Ausgabe schrieb, seiner eigenen detaillierten Hikmet-Biographie (Istanbul 2000) voranstellte, erst seit dem Jahr 2000 auch in der Türkei vollständig vor. Im Zuge der Feiern zum 100. Geburtstag, als offizieller Gedenktag in die UNESCO-Liste aufgenommen, starteten das  türkische PEN-Zentrum, der türkische Schriftstellerverband und die Nâzım-Hikmet-Stiftung erneut eine Kampagne zur Rehabilitierung des Dichters, der zuletzt die polnische und sowjetische Staatsangehörigkeit hatte, nachdem er 1951 nach seiner Flucht aus der türkischen entlassen worden war, die bislang allerdings erfolglos blieb.

© Sabine Adatepe 2003

Anmerkung: Am 5. Januar 2009 wurde Nâzim Hikmet in der Türkei offiziell rehabilitiert.

 
     

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