ORIENT. Deutsche Zeitschrift für Politik und Wirtschaft des Orients.
45. Jg. Nr. 4, Dezember 2004, S. 596-598

Buchbesprechung:

Günter Seufert u. Christopher Kubaseck: Die Türkei: Politik, Geschichte, Kultur. Verlag C.H. Beck, München 2004. 238 S. ISBN 3-406-51110-4 (beck'sche reihe 1603)

Noch kurz vor der Entscheidung der EU über Aufnahmeverhandlungen mit der Türkei erschien im Spätsommer 2004 ein neues Türkei-Buch von zwei deutschen Autoren, die seit Jahren vor allem in Istanbul leben und arbeiten: Günter Seufert, durch journalistische Beiträge ebenso bekannt wie durch seine Bücher zu Islam und Islamismus türkischer Prägung, und  Christopher Kubaseck, Turkologe, der sich bisher mit Übersetzungen und Reiseliteratur einen Namen machte und ein Faible für türkische Kultur und Literatur hat.

Die Türkei, so die Autoren im Vorwort, habe sich "in nur zehn Jahren ... von einer Problemregion zum ernsthaften Kandidaten für die EU-Mitgliedschaft entwickelt", die "historischen Voraussetzungen und die Dynamik dieses Wandels" soll der vorliegende Band vor Augen führen (11). Ohne Anspruch auf Wissenschaftlichkeit und Vollständigkeit bereiten die Autoren, wie im Untertitel postuliert, Geographie, Geschichte, Wirtschaft, Politik und Kultur der Türkei journalistisch-essayistisch auf.

Nach dem Muster zahlreicher herkömmlicher Reisebücher steht zu Beginn ein Überblick über Geographie, Klima, "Flora, Fauna und Naturschutz", ergänzt durch die menschlichen Spuren auf der Landkarte: Siedlungsweisen und Verwaltungsstrukturen, dabei auch eine Tabelle mit den 81 Provinzen der Türkei.

Kapitel 2 handelt auf knapp dreißig Seiten die Geschichte Anatoliens ab: von den ersten Siedlungsspuren um 600.000 v. Chr. über Byzanz – ein ungewöhnlicher Einstieg über die biblischen Briefe an Epheser, Kolosser, Galater u.a. verrät die Handschrift des theologisch und religionssoziologisch ambitionierten Günter Seufert – bis zur vorreformerischen Zeit des Osmanischen Reiches. Hier setzt die Bildung der ersten Grundlagen auch für die heutige Türkei ein, weshalb die Autoren hier den Schnitt, mitten in der Geschichte sozusagen, zum dritten Kapitel vornehmen. Osmanischer Reformpolitik folgt ausführlich die Gründung der Republik und die Bildung der Nation unter Atatürk. Für die dem Unabhängigkeitskrieg vorangehende Zeit sind einige sachlich fragliche Formulierungen zu verzeichnen, die Gedanken an eine teilweise Anlehnung der Autoren an die offizielle türkische Geschichtsschreibung aufkommen  lassen (z.B. "jungtürkisches Militär-Triumvirat" (77) –Talat Pascha, der sich u.a. durch die Befehle zum Völkermord an den Armeniern diskreditierte, war Zivilist; auch war nicht die Partei "Einheit und Fortschritt" "paramilitärisch organisiert" (79), sondern vor allem ihr Geheimdienst), wie auch semantische Missgriffe: etwa "Geheimabkünfte" (91) oder statt "Großgrundbesitzer" bzw. dem landläufigen "Agha" der geradezu euphemistisch wirkende Terminus "Großagrarier" (94). Der in anderen Texten nach wie vor häufig idealisierte Atatürk hingegen ist in seiner  Vielschichtigkeit und rigiden Härte gezeigt und sein – unbestreitbar Epoche machendes – Reformwerk kritisch gewürdigt. Es folgen die von politischen Wechselbädern und militärischen Interventionen geprägten 60-80er Jahre sowie die allmähliche Liberalisierung und Hinwendung zur EU in den 90er Jahren.

Statt nun hier die aktuelle politische Situation anzuschließen, folgt unter der griffigen Überschrift "Agrarnation im Internetzeitalter?" ein Kapitel zur Wirtschaft. Unbeachtet bleibt die Kluft zwischen Großgrundbesitzern und Tagelöhnern, konstatiert wird hingegen, "die so selbstgenügsam wirkenden Dörfer" seien seit "Jahrhunderten" in den Weltmarkt integriert (111). Wer hier als "der Bauer" verstanden wird, der mit seinen Verkaufserlösen Steuern, "modernen Komfort", landwirtschaftliche Nutzmaschinen sowie "die Hochzeitsfeiern seiner Kinder" zahlt, wird wenige Seiten weiter mit dem Hinweis auf die von der türkischen Presse so genannten "Bağdat-Straßen-Bauern" klar: reiche Großgrundbesitzer, die, obgleich seit Jahrzehnten in Istanbuler Luxuswohngebieten ansässig, "74 Prozent der landwirtschaftlichen Produktsubventionen einstreichen" (115). In diesem Abschnitt ist schlüssig auch nachgezeichnet, wie es zu der unglaublichen Inflationsrate der Vorjahre von bis zu 150% kommen konnte. Zum 1.1.2005 stehe nun die Streichung von sechs Nullen bei der türkischen Lira an.

Die "Politisierung kultureller Themen" (129) bestimme die innenpolitische Agenda ebenso wie das Bild des Landes von außen, weshalb die Autoren hier zwischen Politik und Kultur die Schnittmenge "Kulturpolitik" einführen, unter dem Titel "Kulturpolitische Dauerbrenner" auf die Themen Islam, derzeitige Regierung unter Recep Tayyip Erdoğan und seine AKP, Kurden und Türken sowie nichtmuslimische Minderheiten eingehen und damit Anlass geben, erneut über das jeweilige Primat der Kultur bzw. Politik in diesen Bereiche nachzudenken. Wenig kritisch übernommen sind im Abschnitt über die türkischen Juden die Haltungen der offiziellen türkischen Seite wie auch der jüdischen "500-Jahr-Stiftung", die sich einig über die gelungene Integration der jüdischen Gemeinde "in das Bürgertum der Stadt" (165) sind. Dass es außerhalb der – sich durch ihre Zugehörigkeit zur türkischen Wirtschaftselite auszeichnenden – Mitglieder dieser Stiftung eine jüdische Gemeinde gibt, die das Zusammenleben keineswegs so problemlos sieht, ist seit Jahren durch kritische Publikationen bekannt (zuletzt etwa die Kampagne der Initiative "Nulltoleranz für Antisemitismus" im Oktober 2004) und sichtbar auch für den letzten Anhänger der These reibungslosen Zusammenlebens seit den Anschlägen auf Istanbuler Moscheen im November 2003.

Weitere "Dauerbrenner" türkischer Politik – noch einmal das Verhältnis zur EU, Zypern und das schwierige Verhältnis zu Griechenland, das Öl im Nordirak, die "Allianz mit Israel" und der (inzwischen geplatzte) "Traum von einer großtürkischen Welt", der türkischen Einflussnahme also auf die Turkrepubliken der ehemaligen Sowjetunion – sind im Kapitel  Außenpolitik behandelt. Die in der öffentlichen Debatte hierzulande so häufig ermangelten Fakten bezüglich der Hintergründe und bisherigen Schritte der Türkei auf dem Weg in die EU finden sich ausführlich geschildert hier ebenso wie die Nachzeichnung der wichtigen Wandlungen in den Kompetenzen des türkischen Militärs in jüngster Zeit. Hier zeigt sich deutlich, wie nötig das rasante Tempo der Veränderungen in allen Bereichen der Türkei und ihrer Gesellschaft die Herausgabe neuer Türkei-Bücher in, im Gegensatz zu früheren Jahren, beschleunigter Folge macht. Wer bei den täglich einander jagenden Nachrichten über neue Entwicklungen in der Türkei bzw. in ihrem Verhältnis zur EU im Jahre 2004 sich kaum noch in der Lage sieht, den Überblick zu behalten, kann hier detailliert nachlesen.

Das kurze Schlusskapitel über Kultur, eines der Highlights des Bandes, leiten die Autoren mit einem Rückgriff auf "das kulturelle Erbe" ein, folkloristische Elemente wie Webteppiche der Yörüken stehen neben Architektur, den Dichtern Yunus Emre und Mevlana sowie Kunsthandwerk. Dass auch Goethe im Absatz über osmanische Dichter und arabische Metrik herhalten muss, ist vermutlich dem etwas atemlosen Rundumschlag zuzuschreiben – ließ der Dichter sich für seinen Westöstlichen Diwan doch statt von den hier genannten osmanischen Diwan-Sammlungen von persischen inspirieren.

Philosophisch geht es zu bei der bildenden Kunst – "Stiefkind auf dem Weg zur Mündigkeit?" ist das Kapitel überschrieben –, bevor in souveräner, knapper und klarer Darstellung hoch informative Exkurse über Film, Musik und Literatur folgen. Kapitel und Buch schließen mit einem Bekenntnis des seit langem über die türkischen Grenzen hinaus bekannten Schriftstellers Orhan Pamuk zur Trennung von politischem und literarischem Engagement bzw. zur "postmodernen Emanzipation der Literatur von der Politik" (212).

Den beiden Insidern ist eine schwungvolle Mischung aus Reise- und politischem Buch gelungen, das den Leser durchaus für die Wahlheimat der Autoren einzunehmen geeignet ist. So ist verzeihlich, dass nicht immer auf  subjektive Wertungen verzichtet wurde – wie etwa auf  Abtönungspartikel, auf z.T. offene Bewertungen ("es wäre ungerecht" u.ä.) und mit schöner Regelmäßigkeit am Ende fast jeden Kapitels ein elegant formulierter westeuropäisch-pädagogischer "Zeigefinger" mit "möglichen" oder "zu erwartenden" Zukunftsaussichten sich erhebt – und die Sprache mitunter recht salopp daherkommt.

Die Stärke des Bandes begründet zugleich seine vielleicht größte Schwäche: zugunsten der thematischen Gliederung wurde auf durchgehend chronologischen Ablauf verzichtet. Wer das Buch zum Blättern, punktuellen Lesen und Nachschlagen nutzt, wird das begrüßen; ein konventioneller Leser hingegen empfindet Wiederholungen und zeitliche Sprünge als ärgerlich.

Quellenangaben fehlen fast durchgehend, erst ab Kapitel 3 finden sich gelegentlich in nicht nachvollziehbarer Streuung Fußnoten mit Quellenhinweisen.

Ergänzt wird das, übrigens den Regeln der alten Rechtschreibung folgende, Buch durch eine Zeittafel, eine Liste mit Abkürzungen von Organisationen und Institutionen (die leider die beiden Einrichtungen TIHV und TIP fälschlicherweise als "Türk..." statt "Türkiye..." deklariert, was einen nicht unerheblichen ideologischen Unterschied ausmacht), ein Personenregister sowie eine ausführliche Literaturliste mit thematisch geordneten Hinweisen auf vertiefende Lektüre in vier Sprachen.

© Sabine Adatepe 2004

 
 
   

© Sabine Adatepe 2010